2. Interview:
Schweizer Finanzplatz unter dem Einfluss der Geopolitik
Das aktuelle geopolitische und ökonomische Klima ist höchst instabil. Krisen wie der Ukraine-Krieg, hybride Kriegsführungen und die Schwächung internationaler Institutionen haben grosse Auswirkungen auf die Schweiz. Der geopolitische Druck von aussen nimmt weiter zu. Dies spürt auch der Finanzplatz. Am Bankiertag vom 12. September diskutiert die Schweizerische Bankiervereinigung die Thematik mit ihren Mitgliedern. Im Vorfeld publizieren wir Interviews mit verschiedenen Expertinnen und Experten aus den Bereichen Wirtschaft, Extremismus und Sicherheit. Heute mit Georg Häsler, Journalist und Militärexperte.
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Plötzlich reden alle von Geopolitik, schwieriger Weltlage, möglichen Atomschlägen – wann hat die Welt die falsche Abzweigung genommen, gibt es den einen Auslöser?
Es gibt nicht den einen Augenblick. Ich glaube, wir im Westen haben zu lange weggeschaut – und es insbesondere verpasst, die Lehren aus den jugoslawischen Zerfallskriegen zu ziehen. Sämtliche Muster der hybriden Kriegsführung lagen auf dem Tisch. Wir haben auch weggeschaut, als Russland Tschetschenien zerstörte, in Georgien einmarschierte, die Krim annektierte, zusammen mit dem syrischen Diktator Assad Aleppo in Schutt und Asche legte, ein malaysisches Verkehrsflugzeug abschoss; die Liste ist lang. Grossbritannien hat z. B. erst reagiert, nachdem der russische Nachrichtendienst 2018 versucht hatte, in Salisbury einen ehemaligen Agenten umzubringen.
Müssen wir von politischem Versagen sprechen? Der Zustand ist ja nicht vom Himmel gefallen.
Wir müssen lernen, besser zuzuhören. Polen, die baltischen Staaten und auch die Finnen warnen schon lange vor den hybriden Angriffen Russlands. Bereits 2007 versuchte der Kreml, Estland unter Kontrolle zu bringen: mit Cyber-Attacken, der Instrumentalisierung der russischen Minderheit und mit Desinformation. Der russische Präsident hatte kurz zuvor an der Münchner Sicherheitskonferenz angekündigt, was er wirklich will: Eine multipolare Welt, also die Rückkehr zur Machtpolitik. Ich glaube, wir müssen uns auf raue Zeiten einstellen und unsere liberalen, demokratischen Gemeinwesen besser schützen.
Ist die Schweiz gut aufgestellt für die neuen Herausforderungen?
Dank der direkten Demokratie sind wir geübt, kontroverse Debatten zu führen. Das schützt uns besser als andere Staaten vor Desinformation. Wir verfügen über einen starken Willen zur Nation, ein gefestigtes Staatswesen und über ein kompetitives Wirtschaftsleben. Es gibt so etwas wie einen «Swiss dream». Deshalb liegt unser Fokus nicht auf dem, was uns spalten könnte, sondern auf das Streben nach dem Glück, um es in den Worten der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung auszudrücken. Gleichzeitig ignoriert unsere Politik, dass sich die Zeiten geändert haben. Die Gnade, mehr als 200 Jahre von einem richtigen Krieg verschont geblieben zu sein, ist kein ewiges Recht. Wir müssen bereit sein, unsere Gesellschaft, unser Land und unser Glück zu schützen und zu verteidigen.
Sind wir verteidigungsfähig?
Wir sind bereit, uns in einem Konflikt unterhalb der Kriegsschwelle zu behaupten, auch gegen bewaffnete Gruppen. Aber wir sind nicht bereit, einen militärischen Angriff abzuwehren. Unsere Armee verfügt gegenwärtig nicht einmal über die Fähigkeit, weitreichende Lenkwaffen zu bekämpfen – geschweige denn gegnerische Bodentruppen zurückzuschlagen. Von den sechs schweren Kampfverbänden sind nur zwei vollständig ausgerüstet.
Was wäre für die Schweiz das Worst-Case-Szenario?
Am gefährlichsten ist eine Fragmentierung Europas: Wenn unsere Nachbarländer gegensätzliche Interessen haben, dann ist auch ein Krieg in unmittelbarer Nähe denkbar. Wir haben also ein hohes Eigeninteresse an einer möglichst prosperierenden EU. Das unmittelbar gefährlichste Szenario ist ein Angriff auf eine kritische Infrastruktur mit einer Distanzwaffe.
Was braucht es an Investitionen in die Sicherheit?
Zuerst geht es darum, die bestehende Armee überhaupt vollständig auszurüsten und die grössten Lücken zu schliessen. Dafür braucht es bis spätestens 2031 rund 13 Milliarden Franken. Dann erst beginnen die wirklichen Investitionen. Ein Prozent des Bruttoinlandprodukts pro Jahr für die Armee ist das absolute Minimum.
Wie soll das finanziert werden? Sparen oder Steuererhöhung?
Klar, zuerst müssen wir sparen. Aber die Landesverteidigung ist eine Gemeinschaftsaufgabe und eignet sich deshalb schlecht, um Polemik gegen Subventionen oder gegen die Entwicklungszusammenarbeit zu machen. Es braucht einen Grundkonsens über die Bedrohung und die Massnahmen zur Resilienz. Wir werden aus realpolitischen Überlegungen nicht darum herumkommen, mindestens temporär Mehreinnahmen, am besten über die Mehrwertsteuer.
Damit schaffen Sie sich in der Wirtschaft keine Freunde.
Die Wirtschaft profitiert von einem sicheren Standort – und einer Top-Infrastruktur, die wir unter anderem mit der Friedensdividende auf diesen Stand bringen konnten: Seit 1990 hat die Schweiz 140 Milliarden statt für die Armee für andere Staatsaufgaben ausgegeben. Natürlich war es im Kalten Krieg einfacher, die Wirtschaft für die Landesverteidigung zu mobilisieren, weil es auch um einen Kampf der Systeme ging. Ich bin aber zutiefst davon überzeugt, dass die Freiheit sowohl aus dem liberalen Wettbewerb als auch aus der individuellen Entfaltung besteht. Dafür müssen wir gemeinsam einstehen.
Als neutrales Land wählt die Schweiz den Alleingang – macht das noch Sinn?
Die Neutralität ist eine Maxime und kein Dogma. Es ist etwas anderes, unser Land vor bewaffneten Konflikten zu schützen als eine Äquidistanz zwischen dem Angreifer und dem Verteidiger herzustellen. Es gehört zum Selbstverständnis der Schweiz, sich zuerst selbst verteidigen zu können. Die Einsatzdistanzen der modernen Waffen führen aber dazu, dass der Alleingang zu einer Illusion geworden ist. Das ist eine Ebene, eine andere der Umgang eines freiheitlichen und weltweit vernetzten Kleinstaats mit der Rückkehr der Machtpolitik. Wir müssen uns bewusst sein, dass unser Wohlstand von international verbrieften Regeln abhängt – unter anderem von der Uno-Charta, die klar zwischen einem Angreifer und einem Verteidiger unterscheidet.
Braucht es eine neue Auslegeordnung der Neutralität?
Wir kommen nicht darum herum, eine grundsätzliche Debatte über den Schweizer Standpunkt im 21. Jahrhundert zu führen. Die geopolitische Lage und verschiedene Volksinitiativen zwingen uns dazu. Ich bin persönlich froh darum. Zur politischen Ehrlichkeit gehört auch, in dieser Debatte alle Optionen auf den Tisch zu legen. Ich bin überzeugt, dass wir uns auch die Nato-Option eröffnen sollten, so, wie es Schweden und Finnland seit dem Ende des Kalten Kriegs getan haben. Ballenberg-Nostalgie allein verteidigt uns nicht. Wir sind Teil der freien Welt und müssen unseren Beitrag dazu leisten, die Grundlagen unserer Prosperität zu schützen.
Geben Sie uns zum Schluss noch etwas Positives mit.
Gerade die Banken sorgen für ein Alleinstellungsmerkmal der Schweizer Wirtschaft. Bei uns gibt es keine Entfremdung zwischen Wirtschaft und Gesellschaft. Das beweist gerade auch unser Gespräch. Ich glaube, dass wir uns aus unterschiedlichen Perspektiven für unser Land einsetzen können, ist ein Privileg. Zu dieser Kultur müssen wir Sorge tragen.
Interview: Urs Bachofner
Zur Person:
Georg Häsler wurde 1972 geboren und studierte in Bern und Basel. Ab 2002 arbeitete er für das Schweizer Fernsehen – u.a. als Autor und Produzent für die Sendungen «Schweiz aktuell» und «Rundschau». Nachdem er SRF-Korrespondent für den Westbalkan mit Sitz in Belgrad gewesen war, wechselte Häsler 2018 ins Bundeshaus. Seit 2020 ist er Mitglied der NZZ-Redaktion und betreut dort als Militärexperte das Dossier globale Sicherheitspolitik. Häsler ist Oberst der Schweizer Armee.