Die neuen Spielregeln der internationalen Steuerpolitik – wie souverän ist die Schweiz?
Die lauten Umwälzungen der internationalen Steuerordnung verändern still und leise auch deren Charakter. Statt rechtlich verbindliche Standards für alle Länder zu setzen, erlaubt ihnen die OECD zunehmend einfach, sich gegenseitig steuerpolitisch zu sanktionieren. Der Standort-Wettbewerb wird dadurch subtiler und hybrider. Die Schweiz muss lernen, ihn nach den neuen Regeln zu spielen.
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Mit den Steuern ist es wie mit anderen Dingen im Leben: Wer sich allein nicht an die vereinbarten Spielregeln hält, ist ein Spielverderber – wenn sich keiner mehr an die vereinbarten Spielregeln hält, ist es eine Regeländerung. Auch die internationale Steuerpolitik ist eine Politik von Konventionen. Der Konsens als solcher ist meist wichtiger als eine bestimmte Lösung. Vor allem unterliegt er aber Veränderungen. Ob USA, EU-Hochsteuerländer, grosse Marktstaaten wie Indien und China oder der Globale Süden – jeder hat nach seiner Agenda Gründe, warum die vereinbarten Spielregeln nicht mehr gelten sollen. Und so kann es kommen, dass man durch Nichtstun plötzlich allein dasteht. Wir leben heute in einer solchen Zeit, in der sich die Regeln der internationalen Steuerpolitik sehr dynamisch ändern. Prominente Beispiele sind die OECD-Mindeststeuer oder die zunehmende Besteuerung im Marktstaat (OECD Pillar 1), und weitere wirkungsgleiche Projekte sind bereits in Arbeit.
Grenzen der Souveränität
Dass die Schweiz hier im eigenen Interesse nicht untätig bleiben darf, ist vorweg klar. Gerade dieser Handlungsdruck zeigt aber auch die Grenzen ihrer Souveränität. Denn diese ist etwas Rechtliches, gegen die ökonomische Wirkung von Steuern ist sie machtlos. Recht ist trennscharf und territorial, Wirtschaft aber ist fluid und global. Die Schweiz allein kann andere Länder grundsätzlich nicht daran hindern, in Ausübung ihrer eigenen Souveränität Steuern zu erheben, selbst wenn sich diese wirtschaftlich gegen die Schweiz richten. Sie kann lediglich ihrerseits Gegenmassnahmen treffen. Es sind eben jene Konventionen der internationalen Steuerpolitik, die solche Eskalationen verhindern sollen, doch genau sie verändern sich derzeit fundamental.
Einige Länder erheben heute beispielsweise von ihren eigenen Steuerzahlern auf Investitionen oder Produkten mit Bezug zur «Steueroase» Schweiz eine zusätzliche Gewinnsteuer. Formalrechtlich besteuern sie zwar ihre eigenen Steuerzahler, ökonomisch aber die Wertschöpfung schweizerischer Unternehmen (Extraterritorialität). Verstösst ein einzelnes Land so gegen den internationalen Mainstream, können die Schweizer Unternehmen leicht auf andere Investoren, Lieferanten oder Kunden in der Welt ausweichen. Diese Freiheit erlaubt es ihnen, die höhere Besteuerung auch ökonomisch auf die Steuerzahler in jenem Land zurück zu überwälzen. Mit dem Verstoss gegen die Spielregeln besteuert sich dieses Land also im wirtschaftlichen Ergebnis selbst.
Verändert sich der Konsens nun aber in der Weise, dass alle Länder von ihren eigenen Steuerzahlern auf Investitionen oder Produkte mit Bezug zur Schweiz eine zusätzliche Gewinnsteuer erheben (so etwa die OECD-Mindeststeuer), sieht die Sache anders aus. Denn nunmehr verhalten sich alle extraterritorial, weshalb plötzlich die Schweiz (trotz Nichtstun) gegen den Mainstream verstösst. Schweizer Unternehmen können nun nicht mehr auf andere Investoren, Lieferanten oder Kunden in der Welt ausweichen und somit die höhere Besteuerung auf die Steuerzahler im anderen Land zurück überwälzen, da sie gegenüber der Schweiz alle gleichermassen höher besteuert werden. Wirtschaftlich werden im Ergebnis somit doch die Schweizer Unternehmen belastet, obwohl sich an der Wertschöpfung und der Souveränität der Schweiz eigentlich nichts geändert hat. Dies muss in der künftigen Steuer-Politik der Schweiz berücksichtigt werden.
Zukunft in der internationalen Steuerpolitik
Der Ansatz an der ökonomischen Wirkung statt an rechtlichen verpflichtenden Standards dürfte die Zukunft in der internationalen Steuerpolitik sein. Denn sie ist sehr erfolgreich, weil sich der Konformitätsdruck so viel leichter durchsetzen lässt. Das Pochen der Schweiz auf die eigene steuerliche Souveränität und eine regelbasierte Politik wird zwar weiter rechtlich anerkannt werden, ökonomische Eingriffe anderer Länder aber trotzdem immer weniger verhindern. Das Prinzip «Geldbörse statt Paragraph» erleichtert ihnen auch die Bildung internationaler Mehrheiten, denn eine «Koalition der Willigen» – wie etwa die oben erwähnten Ländergruppen – lässt sich leichter herstellen als formale Mehrheiten innerhalb der globalen Standard-Setter. Für die Schweiz als kleine Exportnation ist hierbei die kritische Masse zum Handlungsdruck schnell erreicht. Vor dieser ordnungspolitisch bedauerlichen Entwicklung nicht die Augen zu verschliessen, gehört zur gutschweizerischen Realpolitik.
Unter einer steuerökonomischen Sanktionspolitik wird die Wahrnehmung legitimer Standort-Interessen für die kleine Schweiz allerdings deutlich anspruchsvoller als unter einer regelbasierten Rechts- und Ordnungspolitik. So wird sie nicht umhinkommen, in ihrer internationalen Steuerpolitik schärfer nach ökonomischen Prioritäten zu unterscheiden und diesen in der Praxis auch Geltung zu verschaffen. Sie könnte zudem Besteuerungskonzepte anderer Länder gezielter für sich nutzbar machen. Auch dürfte sie sich zur Sicherstellung der internationalen Kompatibilität und Akzeptanz sowie zum Schutz der rein inländischen Besteuerung und des Wirtschaftsstandorts häufiger vor die Entscheidung gestellt sehen, Sonderregeln für bestimmte Steuerpflichtige schaffen zu müssen. Und schliesslich muss sie sich noch stärker mit ihren «Soft Skills» abheben, insbesondere einer pragmatischen Rechtsanwendungspraxis sowie einer unkomplizierten und vertrauensvollen Bürger-Nähe.
Kühler Pragmatismus ist gefragt!
Dass sich die Spielregeln der internationalen Steuerpolitik schnell ändern, ist keine diffuse Zukunftserwartung, sondern eine unbequeme Realität, die längst stattfindet. Dass sie es der Schweiz nicht leichter machen, ebenso. Doch je weniger Möglichkeiten zur Verteidigung ihr die neuen Konventionen bieten, desto mehr auf der offensiven Seite. Das subtile ökonomische Powerplay bietet also auch der Schweiz neue Chancen. Den Kopf in den Sand zu stecken, ist deshalb so vergeblich wie unnötig. Kühler Pragmatismus mit Chuzpe ist gefragt! Die Schweiz wird auch das neue Spiel nicht verlieren, sondern nach den veränderten Regeln weiterspielen. Nur eines darf sie nicht: Durch Nichtstun plötzlich allein dastehen und so sich selbst bestrafen.